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Jan Meyer-Rogge

Bildhauer, Mitglied seit 2013

Interview

1996 stellte mir meine Frau Ursula in einem Gespräch fünf Fragen zu meiner Arbeit.Das Interview ist in der Zeitschrift kunstkonkret Nr.2, 1996 im Verlag St.Johann, und auf meiner Website unter „Interviews“ nachzulesen. Nach 25 Jahren möchte ich die Fragen nun aus heutiger Sicht noch einmal beantworten.

Balance, ein Prozess? Balance, habe ich immer gedacht, sei doch ein Prozess.In deinen Arbeiten dagegen scheint es ein Zustand zu sein, ein idealer zugleich, ein Höhepunkt – die Zuspitzung auf einen Punkt.

In einem Experiment hatte ich damals den feinen Unterschied zwischen Balance und Gleichgewicht gefunden. Beim Balancieren eines Stahlstabes auf meiner Fingerspitze unterbrach ich das Zusammenspiel von Auge und Hand und überlegte, ob das auch blind möglich sei. Das ging natürlich nicht! Erst als ich instinktiv die Richtung wechselte und den Stab quer auf meinen Finger legte, und langsam, mit geschlossenen Augen den Punkt der zur Ruhe gekommenen Bewegung erreichte, hatte ich den Punkt des Gleichgewichts gefunden. Die Zuspitzung auf einen Punkt , wie du es nennst, erreichte ich vielleicht in Skulpturen, bei denen sich zwei Teile nur in einem Punkt, wie auf Messers Schneide berühren, und sich so gegenseitig im Gleichgewicht halten. (Foto1, Gezeiten I, 1987/88 Osthaus Museum, Hagen).

Du sprichst von Visualisieren des Prozesses im Zustand der Balance. Das klingt nach Widerspruch.

In einem Naturbild hatte ich Äquivalenzen zu meinen neuen plastischen Vorstellungen gefunden, STILLWASSER : Im Wechsel der Gezeitenströme Ebbe und Flut steht das Wasser für einen Moment still, bevor die Stromrichtung kentert. Was mich daran faszinierte, war das Elementare, der gesetzmäßige Ablauf der Naturkräfte, der Moment des Innehaltens und die Einheit der Gegensätze im kosmischen Gleichgewicht. Ich versuchte in neuen Arbeiten ebenso physikalische Prozesse in Gang zu setzen, bei denen jedes Teil gleichzeitig die gegensätzliche Funktion von Tragen und Lasten übernimmt, um das Gleichgewicht zu erreichen. Meine skulpturalen Balancen nannte ich „Stillwasser“. Sie bestanden aus selbsttragenden Elementen, drei Meter langen schweren Stahlstäben.

Heute würde ich es so ausdrücken, dass im Dialog der Teile untereinander alle Vorgänge enthalten sind, und durch den Verzicht auf eine dauerhafte Fixierung der Teile, etwa durch Schweissen, die permanent wirkenden Kräfte, die zum Gleichgewicht führen, visuell wirksam bleiben und nachvollziehbar sind. Daran hat sich bis heute nichts geändert. (Foto2, „Drei Stäbe im Raum“,1977, Hamburger Kunsthalle).

Kann man sagen, dass du das Material im Sinne der Balance herausforderst, seine

Eigenschaften beanspruchst, damit es die inneren Kräfte nach außen kehrt, gleichsam preisgibt? („Auf Messers Schneide“)

Das Material, seine Eigenschaften, Schwerkraft und die Formen mit ihren Möglichkeiten, aufeinander zu reagieren, sind im bildnerischen Prozess miteinander verbunden. Es sind daher jeweils mehrere, wenigstens zwei Teile notwendig, um einen Dialog zu beginnen. Alle Werkreihen sind am Anfang entstanden durch einen Auslöser, eine Findung, bei der Auge und Hand, und nicht etwa mathematische Berechnungen zum Ergebnis führten. Im Gegensatz zu den früheren, im Voraus konzipierten Phasen-Objekten, fallen bei der Entwicklung der neuen Arbeiten dagegen Material ( Holz, Stahl), und Handlungsabläufe (das Messen, Wägen und Fügen) von Anfang an zusammen. Von entscheidender Bedeutung dabei ist die Auswahl des Materials aus der Fülle des im Stahlhandel erhältlichen Halbzeugs, z.B. die Rund- und Vierkantstäbe, Flachstähle, Ronden, Platten und Ringe. Gewicht und Maßverhältnisse der Teile, und ihre Mehransichtigkeit bestimmen den Ausdruck.

Es entstanden verschiedene Werkreihen, mit Titeln wie „Bäume und Bauten“, „Gezeiten“,„Balance of Power“, „Gleichgewicht, Balance und die Unruhe darin“ und „Moment des Gleichgewichts“. Von besonderer Bedeutung war für mich das Arbeiten im öffentlichen Raum. Der Ausdruck steigert sich erheblich gegenüber den Modellgrößen und selbst wenn aus Sicherheitsgründen die Teile unsichtbar fixiert sein müssen, signalisiert die Konstellation spürbar Gefährdung. (Foto 3, Modell. Foto 4, Zwischen Ebbe und Flut,1991, Bremen).

Im Unterschied zum empirischen Vorgang – gibt es ein Maß an Konstruktion?

Mit der Entwicklung des „Drei-Phasen-Würfels“ hatte ich 1970 den Wechsel von der Malerei in die dritte Dimension vollzogen, und das Arbeiten mit Geometrie und mathematischen Progressionen entsprach meiner konstruktiven Grundhaltung. Diese änderte sich nicht, als ich 1975 begann, mit Gewicht, Gegengewicht und Gleichgewicht unter dem Einfluss der Schwerkraft zu experimentieren, und damit die logischen Zahlenketten der Phasen-Objekte durch die Logik von Gleichgewichtsbeziehungen ersetzte. Jetzt spielte das Spüren der Widerstände des Materials, der Schwerkraft und seiner scheinbaren Aufhebung eine entscheidende Rolle. (Foto 5, Drei -Phasen-Würfel,1972, und Foto 6, Stab gegen die Wand, 1979, Osthaus Museum, Hagen).

Dann möchte ich fragen nach Suche, Notwendigkeit, Deinem Verlangen, Entscheiden, deine/diese deine Arbeit betreffend.

Meine skulpturalen Balancen basieren auf Energien der Natur und ihren Gesetzen. Es sind weder Abstraktionen von etwas, noch Symbole für etwas., auch keine Modelle für oder von etwas. Sie sind geerdet und stehen für sich. Dass die Teile sich so oder so verhalten, ist physikalisch bedingt, aber wie sie zusammen in eine spannende Konstellation des Gleichgewichts finden können, geschieht durch eine Auswahl unter ästhetischen Gesichtspunkten. Das Spiel der Kräfte und Gegenkräfte, das Spannen und Entspannen im Organismus der Skulptur soll spürbar sein und sich zeigen. – (Foto 7, Gezeiten XIX, 1989, Galereie Hoffmann).

Geblieben ist Balance als ein Vorgang, der das Jetzt und das Grade-jetzt-noch des Gleichgewichts umspielt. Seiner Schönheit, und dem Glücksgefühl des Gelingens mit der Hoffnung auf Dauer, steht der Zweifel an den Kräften und eine ständige Bedrohung von Außen entgegen. –

Wege zu einer „Architektur des Gleichgewichts“ zu finden, bedeutet Wege aus der Gebundenheit und Schwere zu finden. Der Widerstand der Schwere ist wiederum nur mit Schwere zu überwinden, mit Gegengewicht. So entscheidet immer Schwere über den Weg aus der Beharrung, vom Lagernden zum Aufrechten und Schwebenden.

Daran hat sich nichts geändert, und das bedeutet für mich, weiter finden und erfinden. Meine Skulptur, “SOLO“, von 2019, besteht z.B. aus einem Teil, im Gegensatz zu meinen mehrteiligen Arbeiten, und die Skulptur kann sich nur auf absolut waagerechter Standfläche im Punkt ihres Gleichgewichts aufrecht halten. (Foto 8, zwei Ansichten Im Punkt des Gleichgewichts, 2018/19 SOLO).

Fotos:

1, 5, 6, Heike Wippermann, Osthaus Museum, Hagen

2, Elke Wakford, Hamburger Kunsthalle

4, Reinhold Engberding

3, 7, 8, Jan Meyer-Rogge