Ulrich Greiner
Nachruf auf Hanjo Kesting
Ich hätte den Freund und Kollegen Hanjo Kesting um vieles beneiden können, vor allem natürlich um seine stupende Kenntnis der Weltliteratur. Doch vor allem habe ich ihn um seine Stimme beneidet.
Man sage nicht, dafür habe er nichts gekonnt. Er hat aus dieser natürlichen Begabung, eine warme, wohlklingende Stimme zu besitzen, ein Instrument gemacht, mit dem er seine Hörer und Zuhörer bezauberte. Er verschleppte sie in jenes Reich, wo er sich am liebsten aufhielt und am besten auskannte: ins Reich der Literatur.
Insofern war Hanjo Kesting als Chef der Hauptabteilung „Kulturelles Wort“ des NDR die ideale Besetzung. Er hat dies mit der von ihm erfundenen und ungemein beliebten Reihe „Am Morgen vorgelesen“ glänzend unter Beweis gestellt. Auch in seinen späteren Jahren noch, als er längst im Ruhestand war, hat er es vermocht, ganze Säle mit seinen Vorträgen über große Romane oder große Erzählungen der Weltliteratur bis auf den letzten Platz zu füllen.
In der Akademie, wo er lange Jahre Vizepräsident war, hatten wir immer wieder auf schönste Weise miteinander zu tun. Oftmals hat er sich auf sozusagen geräuschlose Weise für die Belange der Akademie eingesetzt. Mit seinen sanften und zugleich klaren, entschiedenen Interventionen hat er die Debatten beflügelt.
Ich erinnere mich an unsere letzte Begegnung vor gut einem Jahr. Es war in der Akademie, und es ging um sein Buch „Auskunft – Gespräche mit Schriftstellern“. Man findet darin einen Querschnitt durch fast 40 Jahre deutscher Literatur- und Geistesgeschichte. Wir redeten, wir diskutierten darüber höchst angeregt, und auch das Publikum war animiert, zuweilen auch amüsiert.
Kesting schien an diesem Abend immer noch etwas angegriffen von seiner scheinbar überstandenen Erkrankung, wirkte aber absolut munter und geistesgegenwärtig. Dass er dieser Krankheit am Ende doch erlegen ist, kurz nach seinem 82. Geburtstag, bestürzt mich. Noch habe ich seine Stimme im Ohr. Ich werde ihn vermissen – wie sicherlich die meisten seiner Zuhörer.