Scroll Top

Lesung im Rahmen des Festivals "Hamburg liest verbrannte Bücher"

Verfemt, nicht vergessen

HAMBURGER AUTORINNEN UND AUTOREN LESEN AUS VERBRANNTEN BÜCHERN

Mit Jan Bürger, Ulrich Greiner, Katharina Hagena, Wolfgang Hegewald, Cornelia Manikowsky, Rainer Moritz, Viola Roggenkamp, Monique Schwitter, Arno Surminski, Saša Stanišić, Regula Venske.

Die Freie Akademie der Künste hat anlässlich des 90. Jahrestages der Bücherverbrennungen Hamburger Autorinnen und Autoren eingeladen, Texte aus Büchern, die 1933 demonstrativ verbrannt wurden, auszuwählen und zu präsentieren.
Auf diese Weise soll an die verfemten Schriftstellerinnen und Schriftsteller erinnert und gleichzeitig ein Bogen in die zeitgenössische Literaturlandschaft gespannt werden. Die Lesenden werden ihre ausgewählten Texte vorstellen, ihre Wahl reflektieren und deren Bedeutung für ihr eigenes Schreiben beleuchten.
An diesem langen Abend der verfemten Literatur wollen wir gemeinsam wiederentdecken – oder neu entdecken – was vernichtet oder zu vernichten versucht wurde.
Zu erleben sind Texte von Erich Kästner, Salomo Friedländer, Christa Anita Brück, Heinz Liepmann, Heinrich Mann, Georg K. Glaser, Karl Jakob Hirsch, Joseph Roth, Johanna Moosdorf, Sigmund Freud, Anna Seghers, Irmgard Keun, Lion Feuchtwanger und Erich Maria Remarque.

Begleitende Worte der Autorinnen und Autoren:

Katharina Hagena zu „Transit“ von Anna Seghers:

Anna Seghers‘ Bücher wurden am 15. Mai 1933 verbrannt. Bis dahin hatte sie mehrere Erzählungen und einen Roman veröffentlicht. Transit war nicht darunter, das Buch erschien erst 1944. Ich habe es dennoch gewählt, weil ich an Anna Seghers erinnern will. Und weil sie in diesem Roman die Folgen der Unterdrückung von Stimmen und Geschichten für uns unmittelbar erfahrbar macht. Davongekommen zu sein heißt nämlich nicht, gerettet zu sein.

Anna Seghers ist am 19. November 1900 in Mainz als Annette Reiling geboren und hieß nach ihrer Heirat Netty Radványi. Den Namen „Seghers“ lieh sich die promovierte Kunsthistorikerin von einem niederländischen Maler des 17. Jahrhunderts, den sie bewunderte.
Das Spiel mit dem Annehmen und Ablegen unterschiedlicher Namen und Identitäten wird auch in Transit durchgeführt: Je mehr Namen, desto mehr Möglichkeiten, sich zu verstecken und zu überleben, aber auch mehr Möglichkeiten, sich zu verirren, verwechselt zu werden, die eigene Geschichte zu verlieren.

Kurz nach der Bücherverbrennung emigrierte Seghers erst in die Schweiz, dann nach Paris, doppelt verfemt als Jüdin und Kommunistin. Als die Nazis Frankreich besetzten, floh sie, genau wie der namenlos bleibende Protagonist von Transit, nach Marseille, weil von dort aus für eine kurze Zeit immer noch Schiffe nach Übersee ablegten.
Seghers gelangte auf einem solchen Schiff über Martinique und New York nach Veracruz und schließlich nach Mexico-City. 1947 kehrte sie nach Berlin zurück, wohnte erst im Westen, später in Ost-Berlin, arbeitete, schrieb und engagierte sich in der DDR bis zu ihrem Tod 1983.

Transit ist eine Fluchtgeschichte, es ist eine Geschichtenflucht, eine Geschichtenflut, ein Buch voller rastloser Übergangsgeschichten aus einer Zwischenwelt, Geschichten, die in der Mitte beginnen, abbrechen und von vorne anfangen.
Nur eine einzige Geschichte, nämlich die des namenlosen Ich-Erzählers, die Geschichte also, die wir lesen, hat einen Anfang und ein Ende. Und nur in ihr kann die Zeit endlich zur Ruhe kommen.
Ich stelle mir vor, seine Geschichte ist die Fortschreibung jenes unvollständigen Bündels loser Blätter, das der Erzähler dem aufgebrochenen Handkoffer eines Toten entnimmt. Denn was der Erzähler im Koffer findet, ist das, was wir in diesem Roman finden, nämlich das tiefe Eintauchen in eine echtes Erzählen. Es ist aber nicht eskapistisch, also gerade keine Flucht, sondern das Gegenteil davon. Die Lektüre bietet vielmehr einen Moment der Rückbesinnung auf die Sprache, einen Augenblick der Erkenntnis und der Wahrheit.

Für mich ist Transit unter vielem anderen nicht nur eine Feier des Erzählens als Mittel zum Überleben, sondern auch eine Parabel von der Zeit. Im ganzen Roman herrscht eine außergewöhnliche Zeitknappheit, alle fliehen, rennen vor den Nazis weg, haben Angst davor, Schiffe zu verpassen, Termine zu vergessen, Zeitrahmen und Gültigkeitsbeschränkungen zu überschreiten, Aufenthaltsgenehmigungen und Visa verstreichen zu lassen. Aufenthalt wird ohnehin nur dann gewährt, wenn man versichert, dass man sich gar nicht aufhalten wird. Schon beim Lesen fühle ich den Stress dieser Menschen, am Ende eines Absatzes, und es sind lange Absätze, muss ich Luft holen.

Gleichzeitig herrscht eine quälende Langeweile, alles wiederholt sich, alle warten, sind gezwungen zum Verweilen, können nichts tun, sind gelähmt, zermalmt von bürokratischen Mühlen und zermürbt von kafkaesken Anträgen auf Scheine, die man nur dann bekommt, wenn man einen anderen schon ausgefüllt hat, den man aber nur beantragen kann, wenn man den ersten Schein besitzt.
Die Zeit wird einerseits knapp und andererseits totgeschlagen. Und dann wieder im Übermaß generiert. Doch die Zeit ficht das nicht an, sie walzt ihrerseits alles um sich herum platt und produziert immer neue Geflüchtete, weitere flüchtige Begegnungen, Fluchtgeschichten, verfluchte Geschichte.

Wie die Geflüchteten selbst, werden auch ihre Geschichten nur geduldet. Sie sind gar nicht richtig da, werden abgewürgt, im Keim erstickt. Geistergeschichten von kopflosen Aufbrüchen. Keiner sieht sie, keiner hört zu. Keiner interessiert sich für den, den er zum Zuhören benutzt, keiner interessiert sich für das, was er hört.
Erst als sich der Erzähler nach langem verzweifelten Herumgerenne besinnt,
sich hinsetzt,
und zwar zum ersten Mal mit dem Rücken zur Tür,
als er anfängt zu erzählen, wirklich zu erzählen,
hat er die Möglichkeit, selbst wieder wirklich zu werden.
Und wie sehr fleht er uns an, wir mögen nicht aufstehen und weggehen, uns nicht langweilen, sondern bitte verweilen. Als hinge sein Leben davon ab. Und das tut es ja auch. Indem er ein einziges Mal zu Ende erzählt, kann er die Zeit in seiner Geschichte aufheben – also im Hegelschen Sinne, zugleich aufbewahren und auflösen.

Die Zeit kann erst in ihre Fugen zurückgleiten, wenn wir lesend dem Erzähler unsere Zeit schenken, zuhören, nicht wegrennen, wenn ich nicht an mich und meine Geschichten denke. Der Roman macht uns lesend zu Menschen – auch, damit wir uns der Verantwortung für das Unmenschliche stellen können. Sich irgendetwas zu stellen geht nämlich nicht, solange wir flüchten oder Ausflüchte suchen.
Das Buch ist eine Ermutigung. Aber kein Trost. Doch Trost ist meines Erachtens ohnehin eine zweifelhafte Angelegenheit.
Transit ist stärker und zeitgemäßer denn je.

Wolfgang Hegewald: Salomo Friedlaender, ein fast vergessener Anarchist

Geboren am 4. Mai 1871, wuchs Friedlaender als Sohn eines jüdischen Arztes in Posen auf. Er studierte in Jena Philosophie und promovierte 1902 über Kant. – „Kant für Kinder“, so der Titel des Buches von 1924, das die Nazis ins Feuer warfen. – Von Anfang 1902 bis Oktober 1933 lebte und schrieb Friedlaender in Berlin. Ein moralischer Exzentriker und Frauenheld. Ein scharfsinniger Aufklärer, der sich vor allem für Abgründe und Klischees der Aufklärung interessierte. Nasalatmer aus asthmatischer Veranlagung und Spazierstocksammler bis zur Emigration. Paul Scheerbart und Georg Simmel wurden seine Freunde; Kurt Wolff verlegte ihn. Seit 1909 veröffentlichte Friedlaender unter dem Pseudonym Mynona – der Umkehrung des Wortes anonym – Grotesken.
Friedlaender bezeichnete sich selbst einmal als eine Synthese aus Kant und Clown (Chaplin). Und anlässlich seines 60. Geburtstages fragte er sich: „Was bin ich? Schriftsteller, so’n Gedankenstrichjunge…ja, meine Schreibmaschine stottert heute vor Wehmut.“
Bis 1935 veröffentlichte Friedlaender 14 philosophische und 23 literarische Bücher. Dann fand er keinen Verleger mehr. Der letzte Titel, eine Sammlung von Grotesken: „Der lachende Hiob“.
Im Oktober 1933 emigrierte Friedländer mit Frau und Sohn nach Paris. Die Familie überlebte den Krieg und die deutsche Besatzung. Vergessen, bettelarm und jahrelang bettlägerig starb Salomo Friedlaender am 9. September 1946 und wurde in Paris begraben.

Eigensinnige haben ein genaues Gespür für einander. Seit den 1960igern sammelte Hartmut Geerken, ein Universalgelehrter der Künste, den Nachlass von Friedlaender in Südfrankreich, Paris und Israel ein und publiziert eine Werkausgabe im Selbstverlag. Immer wenn das Geld dafür reicht, erscheint ein weiterer Band. Inzwischen ist die Edition fast abgeschlossen, das weiß ich von Geerkens Freund Klaus Ramm.
Als Geerken 2021 starb, fehlten von den 39 geplanten Bänden noch 6.

Zwei knappe Abschweifungen noch.
1931, zwei Jahre nach dem Erscheinen des Bestsellers „Im Westen nichts Neues“, veröffentlichte Friedlaender eine Streitschrift „Hat Erich Maria Remarque wirklich gelebt? Der Holzweg zurück“. Der an Kant geschulte Satiriker zückt sein feinstes Besteck: Er dekonstuiert – 50 Jahre vor Derrida – einen ambitionierten Unterhaltungsroman samt seiner Überwältigungsästhetik und legt offen, dass der Romancier die Aporien eines prinzipiellen Pazifismus gar nicht zur Sprache bringt und es vermutlich auch nicht will. „Ein pazifistisches Kriegsbuch und bellizistisches Friedensbuch“, so apostrophiert Friedlaender den Roman. Später wird Truffaut, gefragt, ob es Kriterien gäbe, einen Kriegsfilm von einem Antikriegsfilm zu unterscheiden, lakonisch Nein! sagen.
Diese Anmerkung will auch ein wenig an der Homogenitätsillusion kratzen, die ein Abend wie heute leicht suggeriert. Kurt Tucholsky, selbst Satiriker und zuvor ein bekennender Fan der Grotesken von Mynona, verstand in Sachen Remarque gar keinen Spaß und überzog Friedlaender mit einer ebenso arroganten wie gehässigen Replik.

Die zweite Anmerkung wird sich Ihnen gleich erschließen, wenn ich die Groteske CHORUS MYSTICUS aus dem Band „Rosa die schöne Schutzmannsfrau“ von 1913 vorlese.
Meine doppeldeutsche Biografie hat mir auch Diktaturerfahrungen und eine Stasi-Akte eingetragen. Dort finden sich unter anderem Berichte von Sascha Anderson, des literarischen Zentralspitzels vom Prenzlauer Berg, über mich. Und Sascha Arschloch, wie ihn Wolf Biermann mit gebotener hanseatischer Dezenz ansprach, erscheint dort, in meiner Akte, als IM Fritz Müller.

Cornelia Manikowsky: „Nach Mitternacht“ von Irmgard Keun.

„Nach Mitternacht“, schrieb Irmgard Keun im Exil. Es erschien 1937 in dem deutschsprachigen Exilverlag Querido in Amsterdam, in Deutschland wurde es erst 1956 (in der DDR) und fünf Jahre später, 1961, in Westdeutschland verlegt.

Irmgard Keun war ein „Shooting-Star“ der frühen 30iger Jahre. 1931 war „Gilgi, eine von uns“ erschienen und hatte die 26jährige Keun auf einen Schlag berühmt gemacht, nur ein Jahr später folgte, mindestens ebenso erfolgreich, „Das kunstseidene Mädchen“, das heute das bekannteste Buch Irmgard Keuns sein dürfte.

Seit der Machtübertragung konnte Irmgard Keun nicht mehr in Deutschland publizieren. 1936 ging sie ins Exil, 1940, nach dem deutschen Einmarsch in die Niederlande, kehrte sie unter falschem Namen zurück. 1945 begann sie wieder in Deutschland zu veröffentlichen, doch sie erreichte nie wieder die Bekanntheit, die sie vor 1933 hatte. Erst wenige Jahre vor ihrem Tod, Ende der siebziger Jahre begann eine neue Generation – und nicht zufällig waren es vor allem Frauen – sich wieder für ihr Werk zu interessieren und auch die frühen Bücher wurden wieder aufgelegt.

Irmgard Keun setzte sich gegen die Beschlagnahme und Vernichtung ihrer Bücher zur Wehr. 1935 meldete sie gegenüber dem Berliner Landgericht Schadensersatzansprüche für entgangene Einnahmen ihrer Werke an.
Zu sowas gehört Mut, es braucht Wut, Naivität oder eher: vorgebliche Naivität und nicht zuletzt: Chuzpe. Denn so aussichtslos das Unterfangen auch von Anfang an war, so zwang Irmgard Keun doch das Berliner Landgericht, die Gestapo und schließlich die Reichsschrifttumskammer sich mit ihrer Schadensersatzforderung zu befassen. Es wurden Akten angelegt und Briefe verfasst – um die Ansprüche schließlich mit aller Gründlichkeit abzulehnen.

Mut, Wut, vorgebliche Naivität und Chuzpe sind für mich kennzeichnend auch für das Werk von Irmgard Keun und der Grund, warum ich Irmgard Keun und ihr Buch „Nach Mitternacht“ ausgewählt habe.
Irmgard Keuns Blick auf ihre Zeit ist präzise und schonungslos. Sehr deutlich wendet sie sich gegen die Dichter, die jetzt alle schreiben, (Zitat, man beachte die absurde Umkehrung), „daß man nur die natürliche Heimat seiner Natur lieben muß“. Irmgard Keun dagegen schreibt auf, (Zitat) „was in den großen Städten los ist und mit den Menschen“:
Versteckt in der Rolle des einfachen, naiv vor sich her plappernden jungen Mädchens beschreibt sie die antiintellektuelle, ressentimentgeladene, kleinbürgerliche, dumpf-chauvinistische und nicht zuletzt strikt auf den eigenen Vorteil bedachte nationalsozialistische Begeisterung ihrer Zeitgenossen. Ein gefährlicher Bodensatz aus Piefigkeit, Habgier und frustrierter Männlichkeit (heute würde man toxische Männlichkeit sagen), den wir, im Großen wie im Kleinen, leider auch heute noch kennen.
Doch was hilft einem diese als Naivität getarnte Schlauheit, was hilft einem die Einsicht in die Verhältnisse – der Intellekt – wenn die Dummheit so groß ist, so zahlreich, so breitbeinig und dann auch noch in SA-, SS- Gestapo- oder Wehrmachtsuniform daherkommt? Irmgard Keun ist ihr naiv-plappernder „Keun-Sound“ durchaus auch vorgehalten worden, ich verstehe ihn auch – und gut! – als Ausdruck der Verzweiflung. Und das ist der Grund, weshalb ich Irmgard Keun ausgewählt habe.

Und so lese ich jetzt einen Ausschnitt aus „Nach Mitternacht“: Sanna, die Protagonistin, und ihre Freundin Gerti geraten in die Parade anlässlich des Besuchs Hitlers in Frankfurt. Danach gehen sie mit Bekannten in eine Kneipe.

Viola Rogggenkamp: „Warum Krieg?“ / Siegmund Freud

Ich ging auf die Bühne, setzte mich, nannte meinen Namen, und hinter mir in meinem Rücken hing eine riesige weiße Leinwand. Wir alle, so sagte ich zum Publikum, kennen die Bilder von damals und können sie uns hier auf die Leinwand imaginieren: Die aufgeschichteten Scheiterhaufen, die hochschlagenden Flammen, und drumherum stehen deutsche Studenten und werfen Bücher ins Feuer. – Heutzutage werden Flächenbrände gelegt mit verbotenen Wörtern!

Und dann begann ich zu lesen aus dem Brief, aus der Antwort von Sigmund Freud an Albert Einstein im September 1932: „Warum Krieg?“

Arno Surminski: „Im Westen nichts Neues“ / Erich Maria Remarque

Als ich mich vor fünf Wochen entschied, aus dem Buch „Im Westen nichts Neues“ von Remarque zu lesen, ahnte ich nicht, dass dieses Buch durch die geplante  Verfilmung heute in aller Munde sein würde. Mir bedeutet „Im Westen nichts Neues“ viel, denn es zeigt aus der Sicht einfacher Soldaten das ganze Elend an den Fronten des ersten Weltkrieges. Den Nationalsozialisten gefiel das Buch nicht, weil es so wenig „Heldenhaftes“ enthielt.  Deshalb kam es 1933 auf die Liste der unerwünschten Bücher. Wir können immer noch daraus lernen, denn auch heute ist Krieg wieder eine traurige Begleiterscheinung unseres Lebens.

Veranstaltungsort:
Freie Akademie der Künste in Hamburg